Es ist wie­der so­weit: 9. No­vem­ber – der Tag, an dem die Deut­schen über­haupt nicht mehr wis­sen, was sie denn nun fei­ern wol­len oder be­trau­ern sol­len. Und aus dem bür­ger­li­chen Feuil­le­ton dräut es daher und raunt einem dun­kel-mys­tisch ent­ge­gen: Ein deut­scher Schick­sals­tag sei der 9. No­vem­ber. Unter Schick­sal – sei es nun mit un­be­stimm­tem oder be­stimm­tem Ar­ti­kel – hat man es in die­sem Land noch nie ge­macht.

Eine Zeit lang sah es ja so aus, als würde im Wett­streit darum, wel­cher der zahl­rei­chen schick­sal­haf­ten 9. No­vem­ber denn nun der schick­sal­haf­tes­te ist, der 9. No­vem­ber 1989 als Sie­ger her­vor­ge­hen. Doch 36 Jahre nach dem Zu­sam­men­bruch der DDR und ca. drei Bil­li­o­nen Euro Trans­fer­leis­tun­gen für den „Auf­bau Ost“ hat da nie­mand mehr Bock drauf – die Deut­schen im Wes­ten nicht, und die im Osten schon mal gar nicht. Dass Ka­pi­ta­lis­mus nicht nur preis­güns­ti­ge Süd­früch­te, son­dern auch Ar­beits­lo­sig­keit und hö­he­re Mie­ten be­deu­tet, hät­ten sie zwar wis­sen kön­nen, aber in bes­ter deut­scher Tra­di­ti­on spielt man gerne das arme, weil arg­lo­se Opfer.

Immer schon chan­cen­los war der 9. No­vem­ber 1918 – der 9. No­vem­ber, an dem Phil­ipp Schei­de­mann (SPD) vom Bal­kon des Reichs­tags die deut­sche Re­pu­blik aus­ge­ru­fen hatte. Denn die­ses Datum ist dann doch ein­fach zu eng ver­knüpft mit dem Ende eben die­ser Re­pu­blik am 30. Ja­nu­ar 1933 – und mit der Frage, wie es dazu kom­men konn­te, und dem, was dann folg­te: die na­ti­o­nal­so­zi­a­lis­ti­sche Dik­ta­tur, der von Deut­sch­land be­gon­ne­ne Zwei­te Welt­krieg und – last but not least – jenes Ver­bre­chen, für das die Deut­schen bis heute kein deut­sches Wort ge­fun­den haben, ob­wohl es in die­ser Form nur in Deut­sch­land voll­zo­gen wer­den konn­te: der erste (und bis­lang ein­zi­ge) staat­lich bis ins De­tail or­ga­ni­sier­te und in­dus­tri­ell um­ge­setz­te Völ­ker­mord der be­kann­ten mensch­li­chen Ge­schich­te – der Ho­lo­caust, die Ver­nich­tung der eu­ro­pä­i­schen Juden.

Es mag daher über­ra­schen, dass nun aus­ge­rech­net jener 9. No­vem­ber 1938, dem man fälsch­li­cher­wei­se nach­sagt, er habe den Be­ginn der sys­te­ma­ti­schen Ver­fol­gung der Juden durch die Deut­schen mar­kiert, mitt­ler­wei­le quasi zum liebs­ten 9. No­vem­ber der Deut­schen ge­wor­den ist. Doch das hat ganz ein­fa­che Grün­de.

Zum einen: So­wohl Täter als auch Opfer sind – von den we­ni­gen Aus­nah­men ab­ge­se­hen, die man mitt­ler­wei­le an einer Hand ab­zäh­len kann – tot. Man muss nicht fürch­ten, sich mit Ein­wän­den der einen oder Kri­tik der an­de­ren Seite her­um­schla­gen zu müs­sen.

Auch wenn die Ge­schich­te der Ver­fol­gung der Juden in Deut­sch­land (und spä­ter Eu­r­o­pa) nach dem 9. No­vem­ber 1938 noch wei­ter­ging und schließ­lich in den Gas­kam­mern der Ver­nich­tungs­la­ger ihren furcht­ba­ren und in kei­ner Spra­che der Welt zu be­schrei­ben­den End­punkt fand, er­spart einem der 9. No­vem­ber 1938 – so pa­ra­dox dies auch sein mag – genau dies: den Blick auf die Ver­nich­tungs­la­ger, die Gas­kam­mern und Kre­ma­to­ri­en.

Die Schuld lässt sich so auf ein hand­hab­ba­res For­mat re­du­zie­ren. Wie der Ver­bre­cher vor Ge­richt, der frei­mü­tig, reue­voll und trä­nen­reich seine klei­ne­ren Straf­ta­ten ge­steht, um so von sei­nem ei­gent­li­chen Ver­bre­chen ab­zu­len­ken.

Und so kam es – an­ders, als von vie­len er­war­tet (oder auch be­fürch­tet) –, dass von all den an­geb­lich so schick­sal­haf­ten Tagen des letz­ten Jahr­hun­derts, die auf den 9. No­vem­ber fie­len, aus­ge­rech­net der 9. No­vem­ber 1938 zum „Lieb­ling“ der Deut­schen wurde.

Man schlägt sich an die Brust, be­kennt sich – mit­un­ter trä­nen­reich – zur his­to­ri­schen Schuld, zu den Ver­bre­chen, die wahl­wei­se im deut­schen Namen oder vom deut­schen Boden aus be­gan­gen wur­den (als ob Namen und Boden, und nicht Men­schen, Ver­bre­chen be­ge­hen), lobt sich selbst für die ei­ge­ne Er­in­ne­rungs­kul­tur (wobei man gerne den müh­sa­men und oft furcht­ba­ren Kampf um die­ses Er­in­nern un­ter­schlägt), emp­fiehlt diese dann – voll ge­dan­ken­lo­ser Ar­ro­ganz – als Lehr­bei­spiel Drit­ten (als ob Ausch­witz eine Art Prak­ti­kum für die ei­ge­ne Mensch­wer­dung ge­we­sen wäre: ir­gend­wie schlimm, aber letzt­lich not­wen­dig), ruft „Nie wie­der!“ – und hält der Welt mit ag­gres­si­vem Ges­tus das Bild des wie­der­gut­ge­wor­de­nen Deut­schen un­ge­fragt unter die Nase.

Doch die Trä­­nen, die bei sol­chen Ge­le­­gen­hei­ten zu ver­­­gie­­ßen sich deut­­sche Po­­li­ti­ker an­­ge­wöhnt haben, sind die Trä­nen des un­ver­bes­ser­li­chen, ma­ni­pu­la­ti­ven Na­r­ziss­ten – un­fä­hig zur Aus­ein­an­der­set­zung mit Kri­tik, stets das ei­gent­li­che Opfer sei­ner ei­ge­nen Ver­bre­chen und Schand­ta­ten.

Es sind die Trä­nen des Kro­ko­dils.

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